Page 3 - Rheinfelder Woche - KW 47 - 2020
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DIENSTAG, 17. NOVEMBER 2020                                                                                                                                  SEITE 3






                                                   FORTSETZUNG

          Wie schon erwähnt, ist es aus                                     nannter Coboter einer Aargauer
          meiner Sicht ein Mix aus Ver-                                     Firma ausgestellt. Es stellt sich
          netzung und «Naturnähe»:                                          somit tatsächlich die Frage, wie
          Schliesslich steht am Anfang                                      sich Kontinuität und Wandel in     Mit spitzer Feder …
          der Industrialisierung der Bau-                                   Industrie und Gesellschaft be-
          ernhof,  der  Effizienz  der  zahl-                               dingen. Dabei spielt wohl auch
          reichen Arbeitsabläufe fordert.                                   das Bedürfnis des Menschen,                       Kinder –
          Die dort angesiedelte Heim-                                       seine  Lebensumstände  zu  ver-
          arbeit führte zudem zur maxi-                                     bessern, eine grosse Rolle – wer
          malen Nutzung der «personel-                                      kann sich heute ein Leben ohne                    der ganz normale
          len» und zeitlichen Ressourcen,                                   Elektrizität vorstellen?
          die auch in der Industrialisie-                                                                                     Wahnsinn!
          rung eine grosse Rolle spielen.                                   Am Schluss werden die Be-
                                                                            sucherinnen und Besucher
          Was hat damals die Aargauer                                       zum Mitgestalten miteinbezo-       Das Leben mit Kindern macht  Pause ein und entdecken etwas
          Industrie ausgezeichnet?                                          gen. Was steckt hinter diesem      Spass – für mich als kinderlose  Interessantes  am  Wegrand. Dies
          Es beeindruckt mich immer                                         Schlusspunkt?                      Tante eigentlich immer. So gehö-  schärft mein Blick fürs Detail er-
          wieder, wie früh die Aargauer                        Bild: Museum Aargau  In der sogenannten «Arena»,   ren der vierjährige Gian und der  neut. Die Kinder finden in hinter-
          Industrie international vernetzt  Dr. phil. Rudolf Velhagen: «Die Aus-  welches den letzten Ausstel-  dreijährige Luuk zu meinem pri-  letzten Winkeln ein schönes Stein-
          war: Von einem ländlich-iso-     stellung verknüpft Lebens-, Arbeits-   lungsteil  bildet,  können  Besu-  vaten Wellness-Programm und  chen, ein Stück Holz, Blätter, Blu-
          lierten Kanton keine Spur! Die  und  Objektwelten  immer mit  ge-  cherinnen und Besucher auf        sind  ein  fester Eintrag in meiner  men, Insekten etc. Und nicht sel-
          Strohindustrie beispielsweise  sellschaftlichen Überlegungen und   analoge oder virtuelle Weise      Agenda. Seit einiger Zeit ist es Tra-  ten müssen dann diese Trouvaillen
          exportierte weltweit – von Paris  macht somit einen Zeitsprung in die   (Social Media) «Stellung bezie-  dition, dass ich samstags oder  einfach mit nach Hause. Alle, die
          bis New York – und die Tabak-    Gegenwart.»                      hen». Eine sogenannte State-       sonntags einen Tag mit den bei-  über ein geräumiges Auto verfü-
          pflanzen wuchsen auch nicht                                       ment-Wand mit Behauptun-           den Jungs und meiner Schwester  gen, sind hier im Vorteil. Den bei-
          vor der Haustür, sondern kamen  Die Ausstellung «Von Menschen  gen von berühmten CEO's, aber         verbringe. Das sind für mich immer  den Jungs diese umständlichen
          aus Übersee. 1891 gründete der  und Maschinen» geht von drei  auch von «Normalverbrauche-            sehr abenteuerliche Stunden und  Ideen auszureden  – da  der Ast
          Erfinder und Ingenieur Charles  Grundüberlegungen aus:            rinnen und -verbrauchern» ver-     ich wachse wöchentlich über mich  jetzt halt doch ein bisschen zu
          Eugene Lancelot Brown zusam-     •  Wie bedingen sich Kontinui-   mittelt Anregungen und Denk-       hinaus und staune, über welch ver-  gross ist – funktioniert übrigens zu
          men mit Walter Boveri in Baden      tät und Wandel in der Indus-  anstösse. Dank seiner Grösse       borgenen Fähigkeiten ich verfüge,  99 Prozent nicht, ohne dass Trä-
          die Firma Brown, Boveri & Cie.      triegeschichte, und welche  kann der Raum auch gut für           von welchen ich gar nicht wusste,  nen fliessen.
          (BBC). Sein Bruder, Sidney Wil-     Rolle spielt dabei technolo-  Workshops  mit Gruppen und         dass ich sie habe. Endlich kann ich  Kinder sind gnadenlos ehrlich:
          liam Brown zog ebenfalls nach       gische Innovation.            Schulklassen verwendet wer-        in meinen Lieblingsfilm «Mary Pop-  Das kann oft lustig sein oder auch
          Baden und arbeitete als techni-  •  Welche Bedeutung hat das  den. Es freut uns zu sehen, dass       pins» eintauchen und wie das fan-  ziemlich peinlich oder beides.
          scher Leiter und Delegierter des    «Konsumprodukt» im Zeit-      die Arena auch zum Diskutieren     tastische Kindermädchen mit dem  Etwa, wenn der  clevere  Gian ei-
          Verwaltungsrats der BBC. Die        alter der unbegrenzten Re-    und manchmal auch zum Sin-         Regenschirm agieren. Nun – zau-  ner kleinwüchsigen  Frau begeg-
          beiden Brüder stammten vom          produzierbarkeit? In wel-     nieren an den Tischen verwen-      bern kann ich (noch) nicht und flie-  net und sie fragt: «Warum bist du
          englischen Ingenieur Charles        chem Verhältnis stehen da-    det wird. Die Ausstellung regt     gen kann ich auch nicht. Auch ein  so klein?». Sie antwortet: «Du bist
          Brown sen. und der Winter-          bei Industrialisierung, Kon-  zum Nachdenken an und dafür        charmantes Lächeln reicht manch-  noch kleiner als ich.» Und er ant-
          thurer Bürgerin Eugenie Pfau        sum und Ökonomisierung  ist ein Stuhl manchmal notwen-           mal nicht, um die bewegungsfreu-  wortet frisch und frei von der Le-
          ab. Die Firma florierte bald und    unseres Alltagslebens (Opti-  dig.                               digen Jungs unter Kontrolle zu hal-  ber mit einer gewissen Ernsthaf-
          entwickelte sich zu einem Welt-     mierung, Effizienz, Schnel-                                      ten, aber mit «Supercalifragilisti-  tigkeit: «Ja, aber ich wachse noch
          konzern (seit 1988 unter dem        ligkeit)?                     Wieso lohnt es sich, diese Son-    cexpialigetisch» komme ich im-  und werde grösser als du.» Na ja,
          Namen ABB). Schon diese weni-    •  Wie werden wir morgen an-     derausstellung in Windisch zu      mer irgendwie weiter… und sei es  Autsch! Kinder überraschen aber
          gen Beispiele veranschaulichen      gesichts der aktuellen He-    besuchen?                          nur meine beiden kleinen «Helden»  irgendwann auch damit, dass sie
          die internationale Anziehungs-      rausforderungen produzie-     Wir befinden uns in einer Phase    zum Lachen zu bringen – dies ist  manches besser können als man
          kraft und Ausstrahlung des Kan-     ren, arbeiten und konsumie-   des gesellschaftlichen Um-         schon die halbe Miete. Es gibt eine  selbst. Nun, Kochen ist jetzt über-
          tons Aargau, die im Übrigen bis     ren?                          bruchs, die zweifellos durch       Menge Gründe mit Kindern  den  haupt nicht mein Metier. Nach-
          heute andauern.                  Die Fragen verdeutlichen, dass  die aktuelle Corona-Krise be-       Tag zu verbringen, obwohl sie an-  dem sich der vierjährige Gian be-
                                           die Ausstellung «Von Menschen  schleunigt wird. Die Bronze-         strengend und fast immer unge-  schwert hat, dass ich nur Fertigra-
          Der Aargau gilt auch als Möbel-  und Maschinen» Lebens-, Ar-      plastik «Der grosse Arbeiter»      duldig sind und eben viele Nerven  violi aufwärme, was kinderleicht sei
          und Haushaltswaren-Kanton.  beits- und Objektwelten immer  des berühmten Schweizer Plas-             kosten können. Doch in der pri-  und mir danach noch detailgenau
          Was hat es damit auf sich?       mit gesellschaftlichen Überle-   tikers Hans Josephsohn bildet      vilegierten Rolle der Tante erlebe  erklärte, wie man eine feine Suppe
          Die Möbelproduktion ist im  gungen verknüpft und somit  den Schlusspunkt der Ausstel-                ich das (glücklicherweise) nur am  selber macht, war ich ganz zer-
          20. Jahrhundert ein bedeuten-    einen Zeitsprung in die Gegen-   lung «Von Menschen und Ma-         Rande mit. Zudem Hand aufs Herz  knirscht. Jedenfalls habe ich mir
          der Zweig der Industriekultur  wart macht. Dies erfolgt mit  schinen»: Am Schluss geht es            – unter dem Strich lohnt sich die  jetzt ein Kochbuch schenken las-
          im  Aargau  geworden.  Zu  er-   einer  Ausstellungs-App, die  um den Menschen, der ent-             Mühe doch!                      sen, und lerne mit über 40 Jah-
          wähnen sind hier das Möbel-      zum Beispiel bei den ausgestell-  scheiden wird, wie er in Zukunft   Kinder sind ein kleines Wunder:  ren selber Gerichte zu kreieren.
          haus Traugott Simmen & Cie  ten Fahrrädern die Frage stellt,  arbeiten und konsumieren wird          Ich sehe Luuk immer noch ein  Besonders Spass macht das Ku-
          in Brugg während seiner künst-   welche Bedeutung für den Besu-   und welchen Umgang er mit Di-      paar Stunden nach seiner Geburt  chenbacken mit den Kindern. Da-
          lerischen  Leitung unter  Hans  chenden Mobilität hat. Die aktu-  gitalität, Robotic und Cobotic     vor mir – ein verschrumpeltes klei-  bei zeigt sich nämlich, dass Kinder
          Buser (1924–1957), die Atelier-  elle Situation zeigt, dass unsere  haben wird. In diesem Sinne      nes Ding mit Minaturfingerchen  wahre Künstler sind: Wenn sie den
          gemeinschaft von Albert Nauer  «mobile Gewohnheiten» rasch  ist der Ausstellungstitel «Von           und -füsschen. Und jetzt mit drei  Kuchen mit Smarties, Marzipan-
          und Alfred Vogel (1942–1978)  ändern können und keineswegs  Menschen und Maschinen» Pro-             Jahren kann er schon Nüsse kna-  blumen und silbernen Kügelchen
          mit einem Büro und einem La-     selbstverständlich sind.         gramm.                             cken,  wunderschöne «Knetland-  verzieren oder keck ein paar M &
          den in Zürich und die Möbelfa-                                                                       schaften» gestalten, Raclette es-  M's in den Teig werfen. Ihre Kunst-
          brik Ströbel AG in Frick unter  Wie hängt die Industriege-             Interview: Corinne Remund     sen und mir die Welt erklären. Kin-  fertigkeit stellen die beiden Jungs
          der künstlerischen Leitung von  schichte mit den gesellschaftli-                                     der sind Philosophen: Gian stellt  auch beim Bemalen der Drachen
          Adolf Suter (1945–1965). Der  chen Entwicklungen im Kanton                                           mir bei jedem zweiten Satz die  oder beim Kneten unter Beweis.
          Einfluss des  skandinavischen  Aargau zusammen?                                                      existenzielle Frage «Warum»? Wa-  Ihre eigenwilligen Kreationen las-
          Designs mit einer Vorliebe für  Ich denke, dass der Kanton Aar-           «Von Menschen              rum gehen wir jetzt raus und wa-  sen mit viel Fantasie einen Frosch
          Holz ist unverkennbar, doch  gau ein sehr spannendes, lei-                und Maschinen»             rum benötigen wir Butter zum Ku-  oder Käfer erkennen. Oft brauchen
          die in den 70er Jahren aufkom-   der noch zu wenig erforsch-                                         chenbacken, warum ist das Feuer-  sie meine kreative Unterstützung,
          menden neuen Materialien Me-     tes Untersuchungsfeld in Be-             23.Oktober 2020            wehrauto rot, warum scheint die  wobei sie auf ihren willkürlichen
          tall, Leder, Glas und Kunststoff  zug auf Industriegeschichte              bis 1. Mai 2021           Sonne nur am Tag, warum, wa-    Ideen beharren und es vorkommt,
          verdrängten den Werkstoff Holz,  und gesellschaftliche Entwick-     Di-So: 13 bis 19 Uhr, Montag     rum, warum? Diese überlegens-   dass ich eine halbe Stunde eine
          so dass die Aargauer Möbelpro-   lungen ist. Mit der Gründung               geschlossen              werten Fragen holen mich oft aus  Palme forme, die nach sieben An-
          duzenten sowohl materiell und  der BBC in Baden und der un-                                          der Reserve, lassen mich selber  läufen dann dem kindlichen Kunst-
          geschmacklich in Rückstand  mittelbar erfolgten Elektrifizie-      SBB Historic-Gebäude in Win-      nachdenken und staunen über un-  konzept entspricht.
          gerieten. Eine Ausstellung zum  rung des Aargaus Ende 19. Jh.      disch (Nähe Bahnhof Brugg, 8      sere Schöpfung. Ach ja, warum ei-  Ach ja und noch etwas – Kinder
          «Neuen Wohnen» im Aargau ist  wurde beispielsweise ein be-         Minuten Fussweg)                  gentlich – wie erkläre ich das jetzt  sind das beste Mittel, in dieser
          mehr als wünschenswert.          deutender  Umbruch  eingelei-                                       einem Vierjährigen verständlich?  echt schwierigen Zeit das Leben
                                           tet, der vergleichbar ist mit der   Die Ausstellung ist barriere-   Kinder sind das beste Rezept um  trotzdem zu geniessen!
          Sie wollen mit der Sonderaus-    Digitalisierung und der Robo-     frei und per Lift erreichbar.     zu entschleunigen: So habe ich für
          stellung eine Brücke zur jet-    tic zu Beginn des 21. Jahrhun-       www.museumaargau.ch/           einen kurzen Weg zum Spielplatz  Herzlichst,
          zigen Zeit und der aktuellen  derts: Nicht umsonst ist im letz-      menschen-und-maschinen          sieben Mal so lange, denn alle fünf  Ihre Corinne Remund
          Transformation bauen. Wie ist  ten Teil der Ausstellung ein kol-                                     Schritte legen Gian und Luuk eine  Verlagsredaktorin
          Ihnen dies gelungen?             laborativer Roboter, ein soge-
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