Page 3 - Reinacher Woche - KW 32 - 2022
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DIENSTAG, 9. AUGUST 2022                                                                                                                                     SEITE 3






                                                   FORTSETZUNG

          Ich bin überzeugt, dass im Zeit-                                  forderungen nebst unnötigen
          alter der Globalisierung die re-                                  Regulierungen stellen sich den
                                                                            Aargauer Unternehmen?
          gionalen Produkte und Dienst-                                     Die Liste ist unendlich lang und  Mit spitzer Feder …
          leistungen eine noch grössere
          Rolle spielen. Wie wichtig diese                                  die Digitalisierung hilft nur be-
          lokale und  regionale  Wert-                                      dingt. Dank Flexibilität und In-
          schöpfung ist, haben wir in den                                   novation erwirtschaften die KMU
          vergangenen zwei Jahren er-                                       eine  hohe Wertschöpfung und
          lebt. Sind die internationalen                                    tragen massgebend zum Wohl-                           Vom Gast zur
          Handelsströme unterbrochen,                                       stand in der Schweiz bei. An-
          so steigt der Wert der lokalen                                    gesichts ihrer grossen Bedeu-                         Quereinspringerin
          und regionalen Produktion. Ich                                    tung ist es stossend, dass KMU
          stelle fest, dass diese Erkennt-                                  im Umfeld einer fortschreiten-
          nis bei  den Konsument innen                                      den Regulierungsdichte mit im-
          und Konsumenten langsam                                           mer mehr administrativem Auf-
          wirkt. Wohnen und arbeiten                                        wand und zusätzlichen Kosten        Wo sind all die Menschen hin? Ist  barn. Doch es folgte gleich der
          in derselben Region bringt Le-                                    belastet werden. Hochrechnun-       da noch jemand? Die Reisebran-  nächste Fauxpas: Mein Vegi-Menü
          bensqualität. Die Globalisie-                                     gen haben ergeben, dass gesamt-     che klagt über Personalmangel, die  wurde wortlos warm und damp-
          rung hat in mancher Hinsicht                                      haft von durch staatliche Regu-     Gastronomie sowieso, im Pflegebe-  fend vor mich auf das weisse Tisch-
          Glaubwürdigkeit  eingebüsst                                       lation bedingte Kosten in der       reich fehlen Tausende Arbeitskräfte.  tuch gestellt, während meine flei-
          und das Augenmerk auf den lo-                              Bild: zVg  Höhe von rund 10 Prozent des    Der Lehrermangel verschärft sich,  schessenden Tischnachbarn noch
          kalen und regionalen Produk-     AGV-Geschäftsführer Urs Widmer   Bruttoinlandsprodukts auszuge-      die Justiz sucht verzweifelt Mitarbei-  rund 15 Minuten auf ihre Gerichte
          ten und Dienstleistungen ist in  wünscht sich weiterhin gesunde und   hen ist. Der AGV setzt sich für   ter, der Ärztemangel ist schon lange  warten musste. Wie sollte ich das
          den  Fokus  gerückt.  Der  nahe  flexible KMU in einem KMU-freundli-  eine massive Reduktion ein und   bekannt. Handwerker sind inzwi-  deuten? Schlechtes Timing oder
          Kontakt zwischen Anbieter  chen Umfeld.                           will auch neue Regulierungskos-     schen gefragter als Popstars. Vom  als Botschaft zwischen den Zeilen:
          und Kunde wirkt vertrauens-                                       ten bremsen. Die Entlastung der     Fachkräftemangel in der Technolo-  «Selber schuld, wenn Du vegi bist
          fördernd.                        chen erlebt werden können. Die  Unternehmen von Regulierungs-        giebranche ganz zu schweigen. In  und eine Extrawurst verlangst?» Je-
                                           mehr als 32'000 Besucher schät-  kosten entspricht einem Wachs-      der Schweiz sind sie jedenfalls nicht  denfalls bleib mir nichts anders üb-
          Seit Ostern finden nach der  zen diese konzentrierte Form  tumsprogramm, weil Geld und                – da melden unsere Medien «Fach-  rig, als gegen mein Bauchgefühl
          Pandemiepause wieder Ge-         der Berufsvermittlung sehr.      unternehmerische Kapazitäten        kräftemangel auf neuem Höchst-  und meine gute Kinderstube alleine
          werbeausstellungen statt. Wie                                     dadurch frei werden.                stand». Die neuen Hoffnungsträger  mit dem Essen anzufangen, wollte
          wichtig ist diese regionale und  Der Aargau ist Spitzenkanton,                                        sind die «Quereinsteiger», die sol-  ich nicht kaltes Risotto essen.
          lokalen Wertschöpfung für das  wenn es um den Export geht.  Wie sieht die Lobby der Aar-              len in fast allen Bereichen so rasch  Tja, so ging es weiter: Der Maître
          Aargauer Gewerbe?                Fast ein Drittel aller Beschäf-  gauer KMU aus?                      wie möglich einspringen. Ungewollt  de Service schwitzte, winkte, gesti-
          Im Aargau gehören Messen zu  tigten sind in der Exportbran-       Mit dem Beitritt zu einem Ge-       einspringen musste ich auch bei  kulierte und gab kaum hörbare Be-
          beliebten Freizeitaktivitäten  che tätig. Wie stark gefährden  werbeverein oder einem Berufs-         einem Anlass in einem bekannten  fehle – doch es gelang ihm nicht,
          der Bevölkerung und sind wich-   der starke Franken sowie der  verband, welcher dem AGV an-           Schweizer Fünfsternehotel. Nach  seine Crew irgendwie unter Kon-
          tige Informations-Plattformen,  Ukraine Krieg respektive Lie-     geschlossen  ist,  profitiert  ein   der langen Coronapause war ich  trolle zu bringen. Sie harmonier-
          um neue Produkte oder The-       ferengpässe die Wettbewerbs-     KMU direkt vom grössten Unter-      dort wieder einmal als Journalistin  ten  nicht  und  waren  bis  spätes-
          men kennenzulernen oder sich  fähigkeit des Kantons?              nehmernetzwerk im Kanton            für eine Berichterstattung eingela-  tens zum Dessert völlig aus dem
          auch nur treiben zu lassen und  Dem Kanton geht es nur gut,  Aargau.                                  den. Ich gehe immer gerne in das  Ruder gelaufen: Das Geschirr klap-
          zu geniessen. Auch heute haben  wenn es auch den Unterneh-                                            luxuriöse Fünfsternehaus direkt am  perte, es rumpelte, Dessertgabel
          regionale Gewerbeschauen ihre  men im Kanton gut geht. Gegen  Was wünschen Sie sich persön-           Berner Bahnhof. Bis jetzt war ich  und -löffel wurde unhygienische
          Berechtigung. Dieser nahe Kon-   externe Faktoren kann er wenig  lich für die Aargauer KMU?           immer begeistert, nicht nur vom ge-  vorne angefasst – man denke an
          takt  zwischen  Ausstellern  und  unternehmen, hingegen muss  Ich wünsche mir weiterhin in-           diegenen Ambiente, sondern auch  Corona, Affenpocken und viele an-
          potenziellen oder bestehenden  er schauen, dass die Unterneh-     novative, flexible und gesunde      von Speis, Trank und Service. Be-  dere Bazillen –, der Sekretärinnen-
          Kunden bietet  herausragende  men im Aargau über sehr gute  KMU- und Gewerbebetriebe in               geistert bin ich immer noch vom  Tisch wurde ganz unüblich vor dem
          Möglichkeiten, um die Bekannt-   Rahmenbedingungen und eine  einem KMU-freundlichen Um-               noblen Ambiente – weniger nobel  Tisch der Teppichetage bedient, die
          heit der lokal ansässigen Firmen  attraktive Steuersituation verfü-  feld, welche die wirtschaftliche   und vorzüglich war dieses Mal in-  Gläser waren immer halb leer (zu-
          zu erhöhen und über den Kauf  gen. Hier gibt es durchaus noch  Leistungsfähigkeit unseres Kan-        dessen der Service.            mindest die Wassergläser) und es
          hinweg zufriedene  Neukunden  Handlungsbedarf.                    tons prägen.                        Die Crew war zusammengewür-    herrschte mehr eine chaotische
          zu gewinnen.                                                                                          felt aus mehrheitlich sehr jungen  Unruhe statt einem gesitteten, ruhi-
                                           Der AGV will die unternehmeri-        Interview: Corinne Remund      Menschen – ich hatte zeitenweise  gen Fünfsterne-Speisesaal-Ambi-
          Es ist zentral, dass die Betriebe  sche Freiheit stärken und aus-                                     den Eindruck, sie würden zum ers-  ente. So viel zum Fachkräftemangel
          einen  Ausbildungsplatz an-      bauen, damit KMU ihre Poten-          Weitere Informationen:         ten Mal einen Teller in den Händen  in der Gastronomie und Hotellerie –
          bieten.  Bald  beginnt  für  viele  ziale im freien Markt entfalten         www.agv.ch                halten oder ein Tablett mit Geschirr  oder wie wir es auch immer nen-
          Schulabgänger die Lehre. Wie  können. Wie unterstützen Sie                                            balancieren und sich hier auf einem  nen mögen.
          sieht die Situation im Aargauer  die  KMU-Wirtschaft  in  dieser                                      Blindflug befinden. Ihre Gesichter  Nicht nur in den noblen Häusern
          Gewerbe aus?                     Hinsicht konkret?                          Zur Person                sprachen Bände – von verkniffener  herrscht akuter Personalman-
          Die Anzahl der abgeschlosse-     Der  AGV  verfolgt  den  Zweck,     Urs Widmer ist seit dem          Miene, über ratlose Blicke bis hin  gel – die Zeitungen sind voll von
          nen Lehrverträge sieht gesamt-   die wirtschaftlichen und poli-      1. April 2021 Geschäftsfüh-      zu mühevollem Lächeln. Wir hat-  Geschichten über Gäste vor ver-
          haft gesehen gut aus; allerdings  tischen Interessen der kleinen     rer des Aargauischen Ge-         ten den geschäftlichen Teil been-  schlossenen Türen von Gasthäu-
          gibt es auch hier sehr grosse  und mittleren Unternehmen             werbeverbandes AGV.  Der         det und wären bereit gewesen für  sern in Stadt und Land. Als auf-
          Unterschiede in den Branchen.  und des Gewerbes zu wahren            53-jährige Urs Widmer lei-       das Entrée – vom Servicepersonal  merksamer und hilfsbereiter Gast
          Es können aber leider bei wei-   und zu fördern. Der AGV fasst       tete vorher den Sektor Ver-      jedoch keine Spur. Ein kurzer Be-  versuche ich das Serviceperso-
          tem nicht alle offenen Lehrstel-  die gemeinsamen Bestrebun-         kaufssupport  einer  grös-       such in der Küche nebenan, liess  nal  – wann immer möglich – zu
          len besetzt werden.              gen seiner Mitglieder zusammen      seren Bank. Nach einer           die Crew dann in die Sätze kom-  entlasten und räume selbst gleich
                                           und vertritt die gemeinsamen        kaufmännischen Lehre             men! Allerdings nicht wie gewohnt,  ab oder stelle das Geschirr so ge-
          Wie steht es um den Fachkräf-    Forderungen  und Interessen         absolvierte er erfolgreich       respektive wie es der Service eines  schickt zusammen, dass das Ser-
          temangel im Aargauer Gewerbe  gegenüber Behörden, Parla-             die  Höhere  Fachprüfung         Fünfsternehotels verlangt. Wir sas-  vicepersonal mit nur wenigen
          und wie unterstützt der AGV in  menten, politischen Parteien,        im Bankgewerbe und bil-          sen vor leeren Wassergläsern. Kur-  Handgriffen den Tisch abräumen
          dieser Situation seine Mitglie-  Privaten  und  anderen  Organi-     dete  sich  laufend  weiter,     zer Hand griff ich die Wasserfla-  kann. Dies hat zur Folge, dass ich
          der?                             sationen sowie der Öffentlich-      wie zum Executive Master         schen, die für den geschäftlichen  zuhause einen ganzen Stapel Visi-
          Der Fachkräftemangel ist wie  keit. Er beteiligt sich an kanto-      of Business Administra-          Teil schon vorhanden waren und  tenkarten von Gastronomen habe,
          überall ein grosses Thema. Mit  nalen Vernehmlassungen und           tion und Erwachsenenbild-        schenkte  an unserem Tisch ein.  die mich gerne sofort einstellen
          «Schule trifft Wirtschaft» ver-  gibt Abstimmungs- und Wahl-         ner. Urs Widmer war von          Auch die Brötchen wurden nicht  möchten, obwohl ich nicht aus der
          suchen wir auf regionaler Stufe  empfehlungen ab. Mit der gross-     1998 bis 2008 im Gemein-         mehr nobel mit Silberzange sepa-  Branche komme – und notabene
          den Schulterschluss zwischen  rätlichen Gewerbegruppe hat er         derat von Habsburg, wovon        rat aufs Tellerchen gelegt inklusive  nicht besonders geschickt bin,
          den Schulen und dem Ge-          einen direkten Draht ins kan-       seit 2002 als Gemeindeam-        der Portion Butter – nein, ganz und  wenn es darum geht, ein volles Ta-
          werbe. Dabei finden regional  tonale Parlament. Mit der Ein-         mann. Er engagiert sich          gar nicht – der Korb mit Brötchen  blett rasch und sicher von A nach
          unterschiedliche Veranstaltun-   sitznahme in verschiedenen          im Militär als Major und in      wurde vielmehr wie am Zmorgen-  B zu tragen. Jedenfalls weiss ich
          gen statt, um die Berufsfindung  Kommissionen, Verbänden und         verschiedenen Vereinigun-        tisch in der WG auf den Tisch ge-  jetzt, dass ich in der aktuellen Situ-
          und auch die Lehrstellensuche  Arbeitsgruppen nimmt er aktiv         gen als Vorstandsmitglied.       stellt, daneben die Schüssel mit  ation wohl durchaus als Querein-
          zu vereinfachen. Auf kantona-    Gewerbepositionen ein.              Er ist verheiratet, hat drei     den Butterportionen. Auch hier er-  springerin eine Chance hätte!
          ler Ebene führen wir alle zwei                                       erwachsene Kinder und ist        griff ich die Initiative und verteilte so
          Jahre mit den Berufsverbänden  Ein lästiges Dauerthema ist der       wohnhaft in Habsburg.            majestätisch wie möglich Brot und  Herzlichst, Ihre Corinne Remund
          die Berufsschau durch, wo über  administrative Aufwand und die                              CR        Butter unter meinen Tischnach-  Verlagsredaktorin
          200 Berufe durch die Jugendli-   Vorschriften. Welche Heraus-
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