Page 3 - Muri Woche - KW 47 - 2020
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DIENSTAG, 17. NOVEMBER 2020 SEITE 3
FORTSETZUNG
Wie ist das Jubiläumsjahr bis Pro Infirmis ist auch auf den So-
jetzt gelaufen? zialen Medien präsent. Wie sieht
Im Jubiläumsjahr 2020 konn- die diesjährige Plakat- und So-
ten wir mit der Jubiläumsbrief- cial-Media-Kampagne aus? Mit spitzer Feder …
marke und unserer Kampagne Bei der diesjährigen Plakat- und
trotz Pandemie präsent sein Social-Media-Kampagne griffen
und für unsere Themen sen- Menschen mit Behinderungen Kinder –
sibilisieren. Digital konnten einen beliebten Internet-Trend
wir das Jubiläum nutzen, um auf: Sie stellten ihre alten Kin-
neue Wege zu gehen; so haben derfotos nach. Mit dieser Sen- der ganz normale
wir beispielsweise einen Vlog sibilisierungskampagne woll-
in mehreren Sprachen produ- ten wir das Leben zelebrieren. Wahnsinn!
ziert, der viele spannende Men- Dazu gehören schöne Momente,
schen mit Behinderungen ins aber auch weniger schöne – und
Zentrum rückt und Einblick in alle Momente dazwischen. Auch Das Leben mit Kindern macht Pause ein und entdecken etwas
ihr Leben gibt. Und wir sind – wenn in den Jahren zwischen Spass – für mich als kinderlose Interessantes am Wegrand. Dies
wie sich das beim Älterwerden damals und heute für die Prot- Tante eigentlich immer. So gehö- schärft mein Blick fürs Detail er-
gehört – auch in uns gekehrt agonist/innen viel Positives ge- ren der vierjährige Gian und der neut. Die Kinder finden in hinter-
und haben beschlossen, dass Bild: zVg/ Pro Infirmis schehen ist, erleben sie nach dreijährige Luuk zu meinem pri- letzten Winkeln ein schönes Stein-
Veränderungen bei Pro Infirmis Felicitas Huggenberger: «Für eine wie vor Hürden im Alltag. Und vaten Wellness-Programm und chen, ein Stück Holz, Blätter, Blu-
anstehen: zu unserem 100-jäh- inklusive Gesellschaft braucht es auch auf diese machen wir auf- sind ein fester Eintrag in meiner men, Insekten etc. Und nicht sel-
rigen Bestehen haben wir die alle: Menschen mit und ohne Behin- merksam. Agenda. Seit einiger Zeit ist es Tra- ten müssen dann diese Trouvaillen
Partizipation von Menschen derung.» Parallel zur Plakatkampagne dition, dass ich samstags oder einfach mit nach Hause. Alle, die
mit Behinderungen in der Or- lancierten wir eine Solidarisie- sonntags einen Tag mit den bei- über ein geräumiges Auto verfü-
ganisation in den Statuten ver- Wie hat sich das Leben der rungskampagne auf Social Me- den Jungs und meiner Schwester gen, sind hier im Vorteil. Den bei-
ankert und möchten diese wei- Menschen mit Behinderungen dia: Mit dem Hashtag #WieDu- verbringe. Das sind für mich immer den Jungs diese umständlichen
ter stärken. in den letzten Jahren verän- UndIch konnten Leute ihr Face- sehr abenteuerliche Stunden und Ideen auszureden – da der Ast
dert? book- und Instagram-Profilbild ich wachse wöchentlich über mich jetzt halt doch ein bisschen zu
Sie möchten die Partizipation Das müssten Sie Menschen mit verschönern und sich so mit hinaus und staune, über welch ver- gross ist – funktioniert übrigens zu
von Menschen mit Behinderung Behinderungen selbst fragen. Menschen mit Behinderungen borgenen Fähigkeiten ich verfüge, 99 Prozent nicht, ohne dass Trä-
bei Pro Infirmis stärken – Sollte Aus unserer Sicht hat sich der solidarisieren. Denn Inklusion von welchen ich gar nicht wusste, nen fliessen.
das nicht eine Selbstverständ- Zugang zu den Infrastrukturen geht uns alle an. dass ich sie habe. Endlich kann ich Kinder sind gnadenlos ehrlich:
lichkeit sein? und dem öffentlichen Verkehr in meinen Lieblingsfilm «Mary Pop- Das kann oft lustig sein oder auch
Aus heutiger Sicht ist es eine für Menschen mit Behinderun- Welches Echo haben Sie auf pins» eintauchen und wie das fan- ziemlich peinlich oder beides.
Selbstverständlichkeit. Aber gen zumindest verbessert, wenn diese Kampagnen bekommen? tastische Kindermädchen mit dem Etwa, wenn der clevere Gian ei-
wie gesagt, blickt Pro Infirmis auch noch viel Handlungsbe- Ein durchaus positives: Die Regenschirm agieren. Nun – zau- ner kleinwüchsigen Frau begeg-
auf eine lange Geschichte zu- darf besteht. Auch in der digita- Kampagnensujets sind aufge- bern kann ich (noch) nicht und flie- net und sie fragt: «Warum bist du
rück. Der Wandel von einer len Welt sind mit barrierefreien fallen, da sie beim Plakataus- gen kann ich auch nicht. Auch ein so klein?». Sie antwortet: «Du bist
100-jährigen Institution der Webseiten positive Veränderun- hang mit ihrer Authentizität charmantes Lächeln reicht manch- noch kleiner als ich.» Und er ant-
Unterstützung hin zu einer in- gen im Gange, die es zu nutzen aus dem klassischen Gesamt- mal nicht, um die bewegungsfreu- wortet frisch und frei von der Le-
klusiven und partizipativen Or- und zu stärken gilt. Verstärkte bild der Hochglanzwerbung aus- digen Jungs unter Kontrolle zu hal- ber mit einer gewissen Ernsthaf-
ganisation geschieht nicht über Massnahmen zur beruflichen gebrochen sind. Wir haben auch ten, aber mit «Supercalifragilisti- tigkeit: «Ja, aber ich wachse noch
Nacht. Natürlich sind Men- Wiedereingliederung der IV-Be- sehr liebe E-Mails erhalten von cexpialigetisch» komme ich im- und werde grösser als du.» Na ja,
schen mit Behinderungen bei züger/innen haben auf Seite der Leuten, die uns geschrieben ha- mer irgendwie weiter… und sei es Autsch! Kinder überraschen aber
Pro Infirmis bereits heute bei- Behörden auch zu Verbesserun- ben, dass sie die Plakate sehr nur meine beiden kleinen «Helden» irgendwann auch damit, dass sie
spielsweise im Vorstand, als gen beigetragen. berührt haben. Die Social-Me- zum Lachen zu bringen – dies ist manches besser können als man
Mitarbeitende und in Kommis- dia-Kampagne stiess auf grosses schon die halbe Miete. Es gibt eine selbst. Nun, Kochen ist jetzt über-
sionen vertreten. Es geht nun Wie geht die Gesellschaft mit Echo. Gerade auf Facebook ha- Menge Gründe mit Kindern den haupt nicht mein Metier. Nach-
aber darum, diese Teilhabe sys- Menschen mit einer Behinde- ben wir eine sehr hohe Reich- Tag zu verbringen, obwohl sie an- dem sich der vierjährige Gian be-
tematisch in der Organisation rung um und wo gibt es noch weite erzielt und die Kampagne strengend und fast immer unge- schwert hat, dass ich nur Fertigra-
zu verankern und zu stärken. Verbesserungspotenzial? aufgrund des grossen Erfolgs duldig sind und eben viele Nerven violi aufwärme, was kinderleicht sei
Dazu schaffen wir den Aus- In der Gesellschaft wurden ei- auf den digitalen Kanälen ver- kosten können. Doch in der pri- und mir danach noch detailgenau
schuss «Partizipation und In- nige, insbesondere physische längert. vilegierten Rolle der Tante erlebe erklärte, wie man eine feine Suppe
klusion», der voraussichtlich Barrieren abgebaut, aber nicht ich das (glücklicherweise) nur am selber macht, war ich ganz zer-
im März 2021 sein Amt aufneh- zuletzt die psychischen Hürden Was wünschen Sie sich für Pro Rande mit. Zudem Hand aufs Herz knirscht. Jedenfalls habe ich mir
men soll: Der Ausschuss soll für eine wirklich inklusive Ge- Infirmis für die Zukunft? – unter dem Strich lohnt sich die jetzt ein Kochbuch schenken las-
sich aus zwei Vorstandsmitglie- sellschaft bestehen nach wie Ich wünsche mir, dass Pro Infir- Mühe doch! sen, und lerne mit über 40 Jah-
dern und maximal sechs weite- vor. Psychische Behinderungen mis auch in Zukunft wesentlich Kinder sind ein kleines Wunder: ren selber Gerichte zu kreieren.
ren Personen, welche selber mit sind im Gegensatz zu kogniti- dazu beiträgt, dem Ziel einer in- Ich sehe Luuk immer noch ein Besonders Spass macht das Ku-
Behinderungen leben, zusam- ven und körperlichen Behinde- klusiven Gesellschaft näher zu paar Stunden nach seiner Geburt chenbacken mit den Kindern. Da-
mensetzen, und hat zur Auf- rungen wenig akzeptiert. Insge- kommen und dazu mit gutem vor mir – ein verschrumpeltes klei- bei zeigt sich nämlich, dass Kinder
gabe, den aktiven Einbezug von samt ist die Gesellschaft in vie- Beispiel vorangeht. nes Ding mit Minaturfingerchen wahre Künstler sind: Wenn sie den
Menschen mit Behinderungen len Bereichen noch nicht be- und -füsschen. Und jetzt mit drei Kuchen mit Smarties, Marzipan-
auf allen Ebenen bei Pro Infir- reit für ein wirklich inklusives Interview: Corinne Remund Jahren kann er schon Nüsse kna- blumen und silbernen Kügelchen
mis voranzutreiben. Wir freuen Zusammenleben. Man denke cken, wunderschöne «Knetland- verzieren oder keck ein paar M &
uns auf die Herausforderungen, hier beispielsweise an inklu- schaften» gestalten, Raclette es- M's in den Teig werfen. Ihre Kunst-
die er an uns stellen wird. sive Schulklassen. Diese bedin- PRO INFIRMIS sen und mir die Welt erklären. Kin- fertigkeit stellen die beiden Jungs
gen, dass Mitschüler und ihre der sind Philosophen: Gian stellt auch beim Bemalen der Drachen
Was sind die wichtigsten Dienst- Eltern oder Kolleginnen und Pro Infirmis führt in der gan- mir bei jedem zweiten Satz die oder beim Kneten unter Beweis.
leistungen? Kollegen diesen Ansätzen mit zen Schweiz Beratungsstel- existenzielle Frage «Warum»? Wa- Ihre eigenwilligen Kreationen las-
len und unterstützt Menschen
Unsere wichtigste Dienstleis- Wertschätzung und ohne Be- mit körperlichen, kognitiven rum gehen wir jetzt raus und wa- sen mit viel Fantasie einen Frosch
tung ist die Sozialberatung. rührungsängste begegnen. Da und psychischen Beeinträch- rum benötigen wir Butter zum Ku- oder Käfer erkennen. Oft brauchen
Diese kostenlose Beratung und haben wir noch einen langen tigungen. Als gemeinnützi- chenbacken, warum ist das Feuer- sie meine kreative Unterstützung,
Begleitung in den verschiede- Weg vor uns. ger Verein mit Sitz in Zürich wehrauto rot, warum scheint die wobei sie auf ihren willkürlichen
nen Lebensbereichen trägt dazu ist Pro Infirmis politisch unab- Sonne nur am Tag, warum, wa- Ideen beharren und es vorkommt,
bei, herausfordernde Lebenssi- Was sind die grössten Heraus- hängig und konfessionell neu- rum, warum? Diese überlegens- dass ich eine halbe Stunde eine
tuationen zu bewältigen und forderungen für Menschen mit tral. Pro Infirmis fördert mit werten Fragen holen mich oft aus Palme forme, die nach sieben An-
Perspektiven zu entwickeln. einer Behinderung in unserer ihren Dienstleistungen das der Reserve, lassen mich selber läufen dann dem kindlichen Kunst-
Wir vermitteln Informationen, Gesellschaft? selbstständige und selbstbe- nachdenken und staunen über un- konzept entspricht.
insbesondere zu den Sozialver- Dass in allen Lebensbereichen stimmte Leben von Menschen sere Schöpfung. Ach ja, warum ei- Ach ja und noch etwas – Kinder
sicherungen, und helfen bei fi- noch immer physische und psy- mit Behinderungen. Pro Infir- gentlich – wie erkläre ich das jetzt sind das beste Mittel, in dieser
nanziellen Engpässen. Kon- chische Barrieren bestehen, so- mis setzt sich dafür ein, dass einem Vierjährigen verständlich? echt schwierigen Zeit das Leben
Menschen mit Behinderungen
krete Dienstleistungen wie etwa dass Menschen mit Behinde- aktiv am sozialen Leben teil- Kinder sind das beste Rezept um trotzdem zu geniessen!
das begleitete Wohnen oder der rungen nicht vollständig und nehmen können und nicht be- zu entschleunigen: So habe ich für
Entlastungsdienst unterstützen diskriminierungsfrei am politi- nachteiligt werden. Dieses Ziel einen kurzen Weg zum Spielplatz Herzlichst,
die Menschen darüber hinaus, schen, wirtschaftlichen, sozia- will Pro Infirmis gemeinsam sieben Mal so lange, denn alle fünf Ihre Corinne Remund
ihren eigenen Weg möglichst len und kulturellen Leben teil- mit den Betroffenen erreichen. Schritte legen Gian und Luuk eine Verlagsredaktorin
selbstbestimmt zu gehen. haben können.